Meine Kindheit – und doch noch ein Opa

Kurz nachdem ich mit meiner Mutter über die zwei Omas und keinen Opa gesprochen hatte, kam überraschend doch noch ein Opa zu Besuch.

Es war jedoch mein Urgroßvater, der Opa meines Vaters.

In meinen Augen uralt aber sehr rüstig, da er sich die meiste Zeit seines Lebens auf Wanderschaft befand und das im wahrsten Sinne des Wortes.

Alles begann damit, dass er als junger Handwerksgeselle zu seinen Wanderjahren aufbrach.

Unterwegs verliebte er sich unsterblich (waren seine Worte) in eine Zigeunerin, die mit ihrer Familie in Pferdewagen durch Deutschland zog.

Wegen ihrer Heirat verstieß ihn seine Familie, daher zog er fortan mit ihnen gemeinsam von Stadt zu Stadt und von Jahrmarkt zu Jahrmarkt.

Immer der Nase nach, wohin der Wind uns trieb“, pflegte er mit einem verschmitzten Lächeln zu erzählen.

Regelmäßig kam er nun mit seinen über 90 Jahren, von der etwa 6 km entfernten Kreisstadt, um uns zu besuchen. Zu Fuß wohlgemerkt!

Denn das Fahrgeld benutzte er, um sich eine Zigarre kaufen zu können.

Eine seiner letzten schönen Dinge, die er sich leistete, von dem kleinen Taschengeld, das er bekam.

Als dies meine Mutter mitbekam, kaufte sie ihm seine Lieblingszigarren, die bloß ein paar Pfennige kosteten und setzte ihn bei der Rückfahrt persönlich in den Bus.

Er konnte wunderbar erzählen und nicht allein von schönen Dingen, die er erlebte.

Sondern auch von schweren Zeiten, die man gut in seinem verwitterten, und mit tiefen Furchen durchzogenem Gesicht ablesen, konnte.

Leider verstarb er bereits im Laufe des kommenden Winters, was mich damals sehr bedrückte, erinnere ich mich.

Für mich das erste Mal, das ich jemanden, der mir bereits in kurzer Zeit ans Herzen gewachsen war, verlor.

Mir kommt es im Nachhinein so vor, als wenn er seine Enkel noch kennenlernen wollte, bevor er diese Welt verließ, um seiner Frau zu folgen.

Beim letzten Besuch schenke er mir sein rotes Wandertuch, das er die ganzen Jahre sorgsam aufgehoben hatte, und viele schöne Motive seiner Zunft zeigte.

Vielleicht hatte er ja mit seinen Erzählungen bei mir den Grundstein meines späteren unwiderstehlichen Dranges, hinaus in die Welt zu gehen, gelegt?

Noch heute kommt es mir vor, als würde ich seinen Zigarrenrauch riechen, wenn ich an in denke, mit seinem weißen, an den Enden nach oben gezwirbelten Schnauzbart, der beim Sprechen immer lustig auf und ab wippte.

9 Antworten zu “Meine Kindheit – und doch noch ein Opa

  1. Gibt es das rote Wandertuch noch?

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  2. Sehr, sehr schade!

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  3. Oh, schade, Dieter, daß du das Wandertuch nicht mehr hast! Das ist so eine schöne, berührende Geschichte, am meisten freut mich daran, daß dein Urgroßvater dich noch kennenlernen durfte, es wird ihm viel bedeutet haben!
    Liebe Grüße
    Monika und Mimi.

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  4. Hallo Dieter,
    unglaublich das deine Frau etwas weggeworfen hat, an dem du so gehangen hast!
    Aber du bewahrst deine Erinnerung in deinem Herzen und das ist gut so.
    Ich wünsche dir einen schönen Sonntag. Liebe Grüße Monika

    Gefällt 1 Person

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